12.02.2014

Der Blick

12.02.2014

Der Blick

Bildsprache und Komposition auf Instagram.

Wenn ich denke, ich habe die gesamte Stadt schon fotografiert, dann ist es an der Zeit, andere Instagrammer zu treffen. Weder habe ich alles gesehen, noch habe ich alles fotografiert. Der Blick der anderen hilft mir dabei, wieder etwas Neues im Vertrauten zu erkennen. Im Alltag geht dieser Blick manchmal verloren.

Manche meiner Follower schreiben mir, dass sie ein Foto von mir auf den ersten Blick erkennen würden. Das ist für den Erfolg auf Instagram wohl auch entscheidend. Denn nur so sind meine Fotos von der Masse der Fotos auf Instagram zu unterscheiden. Dahinter steckt aber die Herausforderung, einen eigenen fotografischen Blick, eine eigene Bildsprache zu entwickeln. Und entwickeln heißt auch, den Blick und die Sprache weiterzuentwickeln. Wer will, kann anhand meines Accounts nachvollziehen, wie sich meine Fotos entwickelt haben. Das ist der Grund, weshalb ich nur selten ein altes Foto lösche. Denn die vielen Fotos erzählen davon, wie sich mein Blick verändert hat. Ich will hier einige Beispiele dafür geben.

Das erste Foto zeigt eine Touristin an der Straßenbahnhaltestelle. Die Straßenbahn fährt gerade ein. Aufgenommen ist dieses Foto mit Hipstamatic. Die Farben sind sehr reduziert, insgesamt ist das Foto recht dunkel. Entscheidend war für mich, dass die einzelne Person vergleichsweise isoliert zu sehen ist. Zwei Elemente meiner Fotos sind schon auf diesem vergleichsweise frühen Foto zu sehen: eine einzelne Person, die wartet, und ein fahrender Zug, also etwas, das sich bewegt. Dieses Foto war mein erstes auf der Beliebtheitsseite von Instagram. Wenn ich mich nicht täusche, brauchte es damals 20 Likes in 20 Minuten, um dort zu landen.

Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatte ich mein iPhone 4 über sechs Monate und schon über 1.000 Fotos mit ihm gemacht. Es war mir vertraut. Auf Instagram hatte ich etwa 150 Fotos hochgeladen und ungefähr 200 Follower. Allerdings hatte ich schon längere Zeit fotografiert. Für meinen Instagram-Account war entscheidend, dass ich 2004 ein Projekt begonnen hatte, bei dem ich jeden Tag (mindestens) ein Foto mit einer kleinen Digitalkamera gemacht habe. Diese Fotos habe ich jeweils kommentiert. Das Foto hatte ein Bezug zum Tag: Entweder es erzählte etwas aus meinem Leben oder es hatte einen Bezug zu dem, was in der Gesellschaft passierte. Foto und Text schickte ich einem Freund. Damals habe ich gelernt, mich zu fragen: Was ist heute wichtig? Was möchte ich vom heutigen Tag auch später noch erinnern? Die Nähe zum Medium der Blogs ist durchaus vorhanden. Und das Foto von der jungen Frau, die auf die Straßenbahn erwartet, bringt die Erinnerung zurück an diesen nasskalten, dunklen Tag Anfang Januar 2011.

Das Foto unterscheidet sich technisch stark von den Fotos, die ich heute über meinen Instagram-Account poste. Geblieben ist, dass ich es mag, wenn eine Straßenbahn oder eine U-Bahn das Bild bewegt. Hinzu kommt, dass sich die Farbe gelb durch meine Fotos zieht. Im folgenden Foto habe ich die Bewegung mit einer klassischen Bildaufteilung (2:5) und der Zentralperspektive kombiniert.

Mit den perspektivisch in die Unendlichkeit strebenden Gleisen versuche ich die baubedingte Schwäche der iPhone-Kamera zu kompensieren: Die Foto sind vom Vordergrund bis zum Hintergrund scharf. Die Tiefe muss mit der Linienführung geschaffen werden.

Ein Beispiel für ein Foto mit goldenem Schnitt und Linienführung ist das nächste Bild von der Seebrücke in Sassnitz auf der Insel Rügen. Sassnitz ist als touristischer Ort vergleichsweise unbedeutend. Auch die Seebrücke kommt ohne ein Häuschen o.ä. aus. Wer an der Brücke steht, wird enttäuscht sein. Als ich das letzte Mal dort war, stand die Sonne im Zenit. Also denkbar ungünstige Voraussetzungen für ein Foto. Aber die Kombination mit den Wolken und die Farben haben das Foto zu einem Hingucker gemacht.

Die Komposition ist bei Instagram wichtig. Aber die Kompositionen müssen nicht immer an den Konventionen orientiert sein. Einige Instagrammer (manche mit über 250.000 Followern) ignorieren den goldenen Schnitt hartnäckig. Ihre Fotos zeigen den Horizont genau in der Bildmitte. Das ist nicht jedermanns Sache. Möglich ist es dennoch. Bei den Spiegelungen in einer Pfütze ist eine mittige Anordnung besonders günstig.

Die Schnelllebigkeit des Mediums fordert zu ständiger Bildproduktion heraus, verzeiht Redundanzen, fordert sie vielleicht auch. So lässt sich leicht eine Serie von immer gleichen Gegenständen (z. B. eine Kaffeetasse) oder Orten realisieren. Guido aus Koblenz, ein passionierter Läufer, fotografiert mit seinem Smartphone auf seiner Jogging-Runde jeden Tag eine Reihe von Straßenbäumen. Das schult das Auge – auch das des Betrachters. So ist eine beeindruckende Serie entstanden. Schaut sie euch an! Ich bin nicht ganz so konsequent. Aber ich fotografiere oft die U-Bahn, wenn sie, wie oben, aus dem Tunnel kommt. Je nach Wetter, Tages- und Jahreszeit ergibt sich eine andere Stimmung.

Ein Beispiel für eine typische Komposition aus meiner Street-Serie ist ein Foto, das ich an einem kalten Wintermorgen in Wien aufgenommen habe. Das Motiv (Straßenszenen, Bewegung) ist noch immer erkennbar. Inzwischen bearbeite ich die Fotos anders. Sie wirken so auch heiterer, wie hier, wo die Sonne sich in den Fenstern spiegelt.

Wer sehen möchte, wie sich meine Fotos verändern, ist gern eingeladen, sich meine „alten“ Fotos anzuschauen. Ich selbst schaue mir gern die alten Fotos von anderen Instagrammern an. Denn auch durch die Beschäftigung mit den Bildern der anderen User entwickle ich meinen eigenen Blick.

Jörg Nicht

Er lebt in Berlin und fotografiert seit seinem 12. Lebensjahr. Inzwischen hat er mehr als 270.000 Follower auf Instagram.

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